Essay: Revolutionäre Zellen

von Andreas Sentker

Beinahe wäre sie verloren gegangen. In ihrem Kern verschwunden. „Die Zelle, Baustein des Lebens“, das klingt nach Lehrbuchprosa aus dem prägenomischen Zeitalter, Biologie von vorgestern.

Spät ist sie entdeckt worden. Selbst den Linsen der frühen Mikroskopiker ist sie 150 Jahre lang verborgen geblieben.

Andreas Sentker
Andreas Sentker

Eine durchschnittliche typische Eukaryontenzelle (eine Zelle mit echtem Kern) misst im Durchmesser etwa 25 Mikrometer, also ein vierhundertstel Zentimeter. Erst Mitte des siebzehnten Jahrhunderts beginnen Instrumentenmacher, Linsen zu schleifen und so in immer kleinere Dimensionen der Welt vorzustoßen. Der Engländer Robert Hook benutzt das Wort „Zelle“, um jene mikroskopisch kleine Kammern zu beschreiben, die er in 1665 einem hauchdünnen Korkscheibchen entdeckte. Fast weitere zweihundert Jahre dauert es, bis die Forscher entdecken, dass alle Tiere und Pflanzen aus Zellen aufgebaut sind. 1855 verkündet schließlich der Pathologe Rudolf Virchow sein Credo: „Omnis cellula e cellula“ – jede Zelle entsteht aus einer Zelle.

Aus mehr als zweihundert Zelltypen mit jeweils bis zu Tausenden von Milliarden Zellindividuen besteht unser Körper, aus Nervenzellen, Muskelzellen, Blutzellen. Zellen sondern Sekrete ab, sie bauen Gewebe auf, sie transportieren Sauerstoff, sie senden Signale aus. Zelltypen wie die unseren finden wir in vielen anderen Organismen. Die Muskelzellen von Fisch oder Insekt unterscheiden sich nicht wesentlich von unseren. Ihre Nerven funktionieren nach dem selben Prinzip wie die Zellen des menschlichen Gehirns.

Die Zelle ist ein faszinierendes Konzept der Biologie, kein Wunder, dass die Zytologie, die Wissenschaft von den Zellen nach den ersten Entdeckungen einen gewaltigen Boom erlebt.
Doch knapp hundert Jahre nach Virchow richtet sich der Blick der Forscher auf andere, deutlich kleinere Bausteine. 1953 veröffentlichen James Watson und Francis Crick ihre Überlegungen zum Aufbau der DNA, der Erbsubstanz. Seither experimentieren und forschen viele Biologen in molekularen Dimensionen – statt in Mikrometern, millionstel Metern, in Nanometern, milliardstel Metern zu messen.

Die Zellen geraten allmählich aus dem Blick der Grundlagenforscher. Was zu Beginn dieses Jahres als „Heiliger Gral der Biologie“, als „die endgültige Antwort auf das göttliche Gebot ‚Erkenne dich selbst‘ gepriesen wurde“, waren andere Bausteine, die des menschlichen Erbguts. ACTG.

Kaum ein anderes Ereignis in der Wissenschaft hat in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit erzeugt, wie die Entzifferung des menschlichen Genoms. Schon am 26. Juni 2000 war US-Präsident Bill Clinton vor die Fernsehkameras getreten. Zu seiner linken Francis Collins, Chef eines internationalen Forscherkonsortiums, zu seiner rechten J. Craig Venter, ehrgeiziger Biotech-Unternehmer. Die beiden hatten sich ein verzweifeltes Rennen geliefert. Wer würde als erster den „Text des Lebens“ präsentieren können? Erschöpft gaben die Gegner schließlich auf. Öffentliche und privatfinanzierte Forschung überschritten, die Politik im Arm, gemeinsam die Ziellinie. Und Clinton triumphierte: „Heute haben wir die Sprache gelernt, in der Gott das Leben schuf.“

Doch einen Text hatte keiner der Beteiligten vorzuweisen. Die Forscher glichen Entdeckern, die ein finnisches Buch aufgeschlagen hatten, ohne des Finnischen mächtig zu sein. Dummerweise gab es in dem Buch zwar 23 Kapitel, aber keine Trennungen zwischen den Wörtern, keinen Punkt, kein Komma, keinen Absatz – drei Milliarden Buchstaben lang.

Den Anstoß zu dieser Mammutlesung hatte das amerikanische Department of Energy gegeben. Experten des Departments wollten erkunden, wie die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki die Gene der Opfer beeinflusst hatten. Die Biologen ergriffen ihre Chance und verkündeten lauthals den baldigen Sieg über alle Übel der Menschheit. Krebs und Aids, große Volkskrankheiten, all das sollte bald der düsteren Vorzeit einer primitiven, vorgenetischen Medizin angehören. „Früher haben wir gedacht, unser Schicksal stünde in den Sternen. Heute wissen wir, es liegt in den Genen“, triumphierte der Nobelpreisträger James D. Watson.

Und das Ergebnis des Humangenomprojekts? Es ist auf den ersten Blick bestürzend. Der größte Anteil unseres Erbguts, 95 Prozent, ist bisher unverständlicher Informationsmüll, gerade einmal etwas mehr als 30 000 Gene haben die Forscher gefunden, kaum mehr, als Wurm, Pflanze oder Fliege besitzen.

Auf den zweiten Blick offenbart sich das eigentliche Wunder. Menschliche Gene sind deutlich komplexer, als bisher angenommen. Jedes einzelne kann eine Vielzahl von Funktionen übernehmen. Am Menschen hat die Natur offenbar ihr ökonomisches Meisterwerk im Umgang mit Ressourcen vollbracht. Um so gewaltiger erscheint nun die nächste Aufgabe der Humangenetiker. Sie haben nicht einen, sondern viele Texte vor sich. Jedes Wort, jeder Satz, kann unzählige Bedeutungen haben.

Und verständlich wird ein Satz nur in seinem Kontext. Jetzt weitet sich der Blick der Forscher wieder. Sie tauchen aus ihren Nanowelten auf und in die Mikrowelten ein. Sie haben die Zellen wieder im Blick. In ihrem Kern das gesamte Genom, ist doch jede Zelle anders. Gene werden ein- und ausgeschaltet. Zellen haben einen Lebenslauf.

Schon träumen die Forscher davon, einst in einer virtuellen, im Computer simulierten Zelle, einzelne Gene zu verändern, Bereiche des Erbguts verstummen zu lassen, andere zu aktivieren. Die Frühzeit der Molekulargenetik ist zu Ende. Es gibt keine einfachen Wahrheiten mehr. Ein Gen – ein Merkmal? Weit gefehlt. Wer die Funktion von Genen verstehen will, muss die Lebensgeschichten von Zellen lesen.

Zebrafisch-Embryo im Vierzellstadium
Zebrafisch-Embryo im Vierzellstadium

Die Lebensgeschichte von Stammzellen etwa. Sie bilden den Teil des frühen Embroys, aus dem sich später der Mensch entwickelt. Sie schlummern aber auch in den Geweben Erwachsener, stets bereit, sich zu teilen und ausgefallene Zellen nachzuliefern. Sie stehen noch ganz am Anfang ihres Entwicklungsweges. Ihr Schicksal ist offen.

Je jünger sie sind, desto größer ist ihr Potential. Desto größer aber sind auch die ethischen Probleme im Umgang mit ihnen. Darf man an Zellen aus frühen menschlichen Embryonen forschen? Muss man es gar, weil sie bisher unheilbare Krankheiten therapieren helfen können? Diese Frage ist keine rein wissenschaftliche mehr. Sie ist eine zutiefst philosophische, eine politische, eine gesellschaftliche Frage geworden. Doch sie alle, die Philosophen, die Politiker, die Bürger, erwarten Antworten aus der Wissenschaft, Orientierung in Sachfragen.

Wer hat die begehrten Antworten, wer lehrt die Basis der Biologie, die Grundgesetze des Lebens. Molekulargenetik oder Zellbiologie? Das ist heute keine Alternative mehr. Dem Verständnis des Lebens kann sich nur annähern, wer sich als Molekulargenetiker in der Zelle auskennt, wer als Zellbiologe die Gene lesen kann.

Die Entscheidungen allerdings müssen andere, müssen wir alle treffen. Biologe ist heute Politik. Und für kaum etwas gilt das mehr, als für die Biologie der Zellen.

Der Autor ist Leiter der Redaktion Wissen, DIE ZEIT

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