Essay – Eine Quelle der Demut

von Svante Pääbo

„Warum sind gewisse Errungenschaften – die erste Mondlandung, die erste Atomspaltung, die Bestimmung der menschlichen Genom-Sequenz – durchtränkt von emblematischer Bedeutung? Ich glaube, der Grund liegt darin, dass derartige Ereignisse unsere Einstellung uns selbst gegenüber verändern. (…)

Svante Pääbo
Svante Pääbo

Es ist ganz klar, dass die Verfügbarkeit einer menschlichen DNA-Sequenz, auf die man zurückgreifen kann, einen Meilenstein darstellt auf dem Weg zum Verständnis, wie sich die Menschheit entwickelt hat. Denn sie öffnet die Tür zu umfassenden Vergleichsstudien. Die wichtigste Auswirkung solcher Studien wird sein, dass sie enthüllen, wie ähnlich sich die Menschen untereinander sind und wie sehr sie anderen Spezies ähneln.

Die ersten Vergleiche werden zwischen dem menschlichen Genom und entfernt verwandten Genomen angestellt werden, beispielsweise mit den Genomen von Hefe, Fliegen, Würmern und Mäusen. Einen kleinen Hinweis auf das, was dabei herauskommen wird, erhält man, wenn man bedenkt, dass etwa 26.000 bis 38.000 Gene in einer vorläufigen Version unseres eigenen Genoms zu finden sind – eine Zahl, die nur zwei- bis dreimal höher ist als die 13.600 Gene im Genom der Fruchtfliege. Außerdem sind etwa zehn Prozent der menschlichen Gene eindeutig mit speziellen Genen der Fliege oder des Wurms verwandt. So haben wir also offensichtlich sehr viel von unserem genetischen Gerüst sogar mit sehr entfernten Verwandten gemeinsam.

Die Ähnlichkeit zwischen Menschen und anderen Tieren wird noch deutlicher, wenn Genom-Sequenzen von Organismen wie der Maus, mit der wir einen Vorfahren aus jüngerer Zeit gemeinsam haben, verfügbar werden. Denn diese Spezies sind wahrscheinlich sowohl aufgrund ihrer Anzahl der Gene als auch aufgrund ihrer allgemeinen Genom-Struktur der unseren sehr ähnlich. Obwohl diese Tatsache bei Insidern in Genetik-Kreisen bereits seit langem bekannt ist, wird die große Ähnlichkeit unseres Genoms mit den Genomen anderer Organismen die Einheit des Lebens für alle offensichtlicher machen. Ohne Zweifel wird die genomische Sicht unseres Stellenwerts in der Natur sowohl eine Quelle der Demut als auch ein Schlag gegen die Idee der menschlichen Einzigartigkeit sein. (…)

In großem Umfang sind jetzt Vergleiche von menschlichen Genomen vieler Individuen möglich, seit es die hocheffizienten Schnelldurchlauf-Techniken für die Bestimmung von DNA-Sequenzen gibt. Das allgemeine Bild, das aus solchen Studien bereits ersichtlich ist, zeigt, dass der Gen-Pool in Afrika mehr Variationen aufweist als anderswo und dass die genetische Variation, die außerhalb Afrikas zu finden ist, eine Untergruppe derer ist, die auf dem afrikanischen Kontinent gefunden wurde. Vom Blickwinkel der Genetik aus sind also alle Menschen Afrikaner, ob sie nun in Afrika wohnen oder seit kurzer Zeit im Exil leben.

Wenn man bedenkt, welch traurige Rolle Rasse und Rassenzugehörigkeit in den meisten Gesellschaften immer noch spielen, dann sind Bedenken angebracht, dass die genetische Analyse von verschiedenen menschlichen Bevölkerungsgruppen missbraucht werden könnte. Glücklicherweise ist aus den wenigen Studien der DNA-Sequenzen von Zellkernen ersichtlich, dass das, was “Rasse” genannt wird und kulturell von großer Bedeutung ist, lediglich einige vererbte Merkmale widerspiegelt, die von einem winzigen Teil unserer Gene bestimmt sind. (…)

Wenn überhaupt, dann werden solche Studien die gegenteilige Wirkung haben, denn Vorurteil, Unterdrückung und Rassismus nähren sich von Unwissen. Die Kenntnis des Genoms sollte Mitgefühl hervorbringen, nicht nur weil unser Gen-Pool ausgesprochen gemischt ist, sondern auch weil ein umfassenderes Verständnis dafür, in welchem Verhältnis unser Genotypus zu unserem Phänotypus steht, zeigen wird, dass jeder wenigstens einige gesundheitsschädliche Allele in sich trägt. Folglich wird es sich als absurd erweisen, wenn irgendeine spezielle Gruppe von Individuen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Trägerstatus für gewisse Allele stigmatisiert wird.

Vom medizinischen Standpunkt aus bergen verbesserte Vorhersagemöglichkeiten, die durch die Identifikation krankheitsbezogener Allele zur Verfügung stehen werden, große Chancen, aber auch Probleme. Die Chancen werden darin liegen, dass die Feststellung des individuellen Risikos dazu verwendet wird, die umweltbedingten und verhaltensbedingten Komponenten von alltäglichen Krankheiten zu verändern. Relativ geringfügige Maßnahmen, die zu einem frühen Zeitpunkt im Leben eingesetzt werden, können sich als äußerst effektiv erweisen, indem sie den Ausbruch einer Krankheit auf einen späteren Zeitpunkt verschieben oder sogar ganz verhindern. Aber eine individualisierte Risikofeststellung kann eine “genetische Hypochondrie” als Preis haben, indem viele dazu gebracht werden, ihr Leben damit zu verbringen, auf eine Krankheit zu warten, die vielleicht niemals auftritt. (…)

Die Erfolge in der medizinischen Genetik und Genomtechnik während des vergangenen Jahrzehnts führten zu einer Verschiebung in Richtung auf eine fast vollständig genetische Sicht von uns selbst. Ich finde es bemerkenswert, dass noch vor zehn Jahren ein Genetiker die Idee verteidigen musste, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch Gene die menschliche Entwicklung bestimmen. Heute fühlt man sich verpflichtet zu betonen, dass es eine bedeutende umweltbedingte Komponente bei alltäglichen Krankheiten, Verhaltensmustern und Persönlichkeitsmerkmalen wirklich gibt! Es besteht unterschwellig die Tendenz, bezüglich der meisten Aspekte unseres “Menschseins” auf unsere Gene zu schauen und zu vergessen, dass das Genom nur ein inneres Gerüst für unsere Existenz darstellt.“

Der Autor ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Abdruck aus Science 291, 1219f. (2001)
mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Dieser Beitrag wurde unter Forschung und Gesellschaft, Genomstation veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar